Kommentar: Inklusion ist nicht die Summe aller Wunschvorstellungen

Ein Kommentar zur Situation der Inklusion in der Schule von Marcus Ventzke.

Suchtprävention? Macht die Schule! Beratung zur gesunden Ernährung? Klar. Immunisierung gegen Sekten? Kein Problem. Mit Geld umgehen können? Da ist die Schule ganz wichtig. Grundlegende Erziehung? LehrerInnen sind in sowas echt groß. Kompetenzorientierung umsetzen? Zu machen. Migration auffangen? Sicher. Digitalisieren? Das schaffen wir! Inklusion so, dass alle optimal gebildet werden? Immer her damit! Personalmangel und Unterausstattung kompensieren? LehrerInnen hängen sich rein.

Die Liste der Aufgaben und Anforderungen, von denen wir uns angewöhnt haben, sie vor den Schultoren abzukippen und zu erwarten, dass sie von Lehrerinnen und Lehrern bewältigt werden können, ist damit noch lange nicht abgeschlossen. Aber das Problem wird auch so schon deutlich: Wir erwarten, dass Lehrerinnen und Lehrer Alleskönner sind, Zauberer, die jedes Problem lösen können, wo und warum auch immer es in unserer Gesellschaft auftaucht. Schule sehen wir nur allzu oft als genau jene Plattform, auf der all diese Aufgaben erfolgreich bewältigt werden können – und natürlich geben wir uns mit weniger als durchschlagendem Erfolg nicht zufrieden. Unter Einser-Abitur machen wir’s schließlich nicht.

Die Selbstgefälligkeit, mit der in unserer Gesellschaft mitunter über Bildungsfragen diskutiert wird, passt zu einer Zeit der immer stärkeren Individualisierung und transportiert zugleich die viel ältere – fast hätte ich gesagt, typisch deutsche – Zuständigkeitsvermutung: Man fragt immer erst danach, wer denn verdammt nochmal zur Lösung des Problems amtlich berufen sei. Daraus kann eine Haltung entstehen, aus der heraus man sein ganzes Leben lang nicht dazu kommt, über die eigenen Handlungen und Kompetenzen nachzudenken, weil man ja stets damit beschäftigt ist, lautstark nach dem Verantwortlichen zu rufen und sich darüber zu beschweren, dass dieser selbstverständlich alles falsch mache. Der Anstaltsstaat lässt grüßen.

Inklusion ist ein Dauerlauf, kein Sprint

Doch geht es mir nicht um die Aufarbeitung historischer Erblasten der deutschen Gesellschaft. Mir geht es darum, dass wir für eine erfolgreiche Inklusion an Schulen eine widerspruchsfreie gesellschaftliche Zielbestimmung und – davon abgeleitet – einen verlässlichen Weg brauchen, den wir gehen können. Daran müssen alle Beteiligten belastbar und dauerhaft mitwirken: Bildungspolitik, Lehrerinnen und Lehrer, aber auch Eltern, Wissenschaft, Schulträger, Lernende, Medien etc. Denn Inklusion ist keine sachlich und zeitlich begrenzte Spezialaufgabe für Schulen. Inklusion ist eine dauerhafte gesellschaftliche Querschnittsaufgabe, an der dann auch alle mitarbeiten müssen:

  • Die Vorstellung, dass man Inklusion weitgehend schmerzfrei auf dem Verordnungswege implementieren und möglichst in ein oder zwei Legislaturperioden damit durch sein könnte, ist folglich abwegig.
  • Die Vorstellung, dass man sein Kind an einer ‘normalen’ Schule anmelden kann, weil man ja das ‘Abschieben’ in Sonderschulen nicht mehr möchte, sich hinter den Toren dieser ‘normalen’ Schule dann aber eine Wunderwelt individuellster Förderung auftut, ist illusorisch.
  • Die Vorstellung, dass Lehrende, die Standard-Lehramtsstudiengänge durchlaufen haben, tiefgreifende sonderpädagogische Fähigkeiten parat haben, ist weltfremd.
  • Die Vorstellung, alle Probleme schnell mit technischer Aufrüstung lösen zu können, ist nicht minder unrealistisch.

Auch diese Aufzählung ließe sich fortsetzen und sie zeigt: Mit kurzfristigen Erwartungshaltungen und Wunschvorstellungen kommen wir nicht weiter. Inklusion ist ein Dauerlauf, kein Sprint. Und Inklusion kann schon deshalb nicht umgesetzt werden wie eine neue Brandschutzbelehrung.

Was bedeutet das? Was sollten wir also tun?

Nun, zunächst müssen wir den langen Atem haben und unsere Ziele konsequent verfolgen, aber eben nicht in der Erwartung, dass in vier bis fünf Jahren inklusive Schulen perfekt funktionieren.

Das bedeutet etwa für Eltern, dass sie ihre Haltungen nicht ständig ändern können. Es hat beispielsweise überhaupt keinen Sinn, wenn laut einer aktuellen Studie ausgerechnet “Eltern mit Inklusionserfahrung” versuchen, “leistungsstarke Kinder” gegen das Konzept der inklusiven Schule mit dem Argument auszuspielen, Inklusion würde “im Lernen des Unterrichtsstoffes bremsen”. Argumentative Konstellationen dieser Art findet man häufig, je nach öffentlicher Großwetterlage: Teilhabe vs. Abschlüsse, Begabtenförderung vs. Inklusion, Inklusion vs. Integration usw.

Ähnliches gilt für alle anderen Stakeholder: Wenn wir den gesellschaftlichen Prozess gestalten wollen, müssen wir über den aktuellen Einstellungskorridor, die jetzige Haushaltsperiode und die gegenwärtigen Forschungsförderschwerpunkte ebenso hinausdenken wie über den Beschulungszeitraum der jeweils eigenen Kinder.

Alle Beteiligten sollten zudem miteinander sprechen, sich aktiv und konkret einbringen und sich den Raum und die Zeit geben, Wege auszuprobieren. Für viele Probleme gibt es noch keine Lösungen. Niemand hat sie. Und daher hat es auch keinen Sinn, immer mit dem Finger auf andere zu zeigen und etwas zu erwarten – vornehmlich von ‘der Schule’. Denn Schule ist kein überzeitlicher Organismus zur Erfüllung unserer Wünsche, Schule ist das, was alle Beteiligten als Schule gestalten.