Gaming im Unterricht? Ein Plädoyer für das Spielen

Nein, das soll kein Beitrag zur “Killerspieldebatte” des letzten Jahrzehnts werden. Lang wurde das Medium Computerspiel in eine schmutzige Ecke geredet. Shooter würden Amokläufe auslösen oder zumindest befördern, Rollenspiele lassen Kinder verdummen.

In diesem Beitrag wollen wir das Thema von einer anderen Seite betrachten. Wie kann man dieses weit verbreitete Medium in der Bildung effektiv nutzen? Worin liegen die Chancen?

Gaming ist Alltag für Schülerinnen und Schüler

Quellen und Darstellungen aus Film oder Serien werden schon seit Längerem gerne im Unterricht eingesetzt. Ein häufiges Argument dafür ist, dass der Zugang zu diesen Darstellungen für Schülerinnen und Schüler niedrigschwellig ist. Das Medium Film beispielsweise kennen junge Menschen bestens aus ihrem Alltag und deshalb ist der Zugang dazu im Unterricht nicht sonderlich schwierig.

Aber auch Gaming ist im Alltag der Schülerinnen und Schüler fest verwurzelt. Im Jahr 2018 haben schätzungsweise 34 Millionen Menschen in Deutschland zumindest gelegentlich Videospiele gespielt. Bei jungen Menschen im Alter von 14 bis 29 Jahren liegt der Anteil an Gamern sogar bei 71%.

Anstatt vermeintliche Zeitverschwendung vergeblich zu verteufeln, sollte man diese Passion junger Leute auch im Unterricht nutzen.

Perspektivenwechsel

“Ich habe gestern den Minotaurus erschlagen.” Wundern Sie sich nicht, wenn das die Themen sind, mit denen Ihre Schüler (in der Oberstufe) den Tag beginnen lassen. Dass Spiele die Möglichkeit bieten, in andere Rollen und Welten einzutauchen, ist keine Begleiterscheinung von digitalen Videospielen. Jedoch wird bei diesem Medium der Rollenwechsel viel intensiver wahrgenommen und wirkt dadurch aktivierender.

Im Gegensatz zu Filmen lassen Spiele den Betrachter bzw. Spieler eine aktive Beobachterposition mit Handlungsmöglichkeit einnehmen. Eine Geschichte wird also erlebt. Das Angebot an einzunehmenden Rollen ist groß und breit gefächert:

Bruch mit “klassischen” Rollenbildern

Es gibt auch Videospiele, die Sichtweisen zulassen, die nicht dem “Mainstream” bzw. dem typischen mit dem Thema verknüpften Rollenbild entsprechen. Häufige Assoziationen beim Thema Krieg sind primär Ego Shooter, welche die Rolle des kämpfenden Soldaten  zeigen, oder Strategiespiele, die einen in die Rolle des kommandierenden Generals schlüpfen lassen. Bereits durch diesen Umstand weisen Strategiespiele auf einen interessanten Aspekt des Themas Krieg hin: Der General oder Minister, der über eine Schlacht entscheidet, nimmt selten an selbiger Teil. Wenn der erste Angriff mit 100 Soldaten nicht gelingt und diese sterben, werden bei der nächsten Offensive eben 200 geschickt. Einen Pfeil bzw. eine Musketenkugel bzw. ein Vollmantelgeschoss kriegt der Mensch, der diese Entscheidung getroffen hat, dabei nicht ab. Vielleicht hilft Ihnen diese Analogie, Ihren Schülerinnen und Schülern zu vermitteln, was die “großen” Schlachten Alexanders, Wallensteins, Pattons oder Schwarzkopfs  bedeutet haben.

An dieser Stelle sei This War Of Mine erwähnt, welches bei seiner Erscheinung als “traurigstes Spiel des Jahres” bezeichnet wurde und eben mit oben erwähnten “kriegstypischen” Spielmodi bricht: This War of Mine zeigt den Krieg aus der Sicht der zivilen Bevölkerung. Um das Überleben der zu spielenden Charaktere zu sichern, werden die Spieler vor Entscheidungen gestellt:  Plündere ich Medikamente aus dem Haus eines älteren (wehrlosen) Ehepaares oder aus dem von Soldaten besetzten Krankenhaus? Die zweite Möglichkeit ist zwar riskanter, könnte aber bei Erfolg zu einer höheren Ausbeute führen. Egal, für welche Möglichkeit sich Spieler entschieden, sie wird Gewissensbisse bei den Figuren hervorrufen. Keine Entscheidung in diesem Spiel macht Spaß - So, wie das Leben in einer belagerten Stadt eben keinen Spaß macht. Genau das macht This War Of Mine so interessant und eventuell auch zu einem sehr geeigneten Mittel, um einer jungen, gaming-affinen Generation das Thema Krieg zu vermitteln.

Runde für Runde die eigene Geschichte schreiben - Sid Meier’s Civilization

Videospiele können auch ein geeignetes Mittel sein, um Geschichte – und sogar Geschichtstheorie – zu erklären. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Spielereihe Sid Meier’s Civilization.

Civilization ist ein rundenbasiertes Strategiespiel, das man gegen andere Spiele oder KI-Gegner spielen kann. Spielerinnen und Spieler übernehmen dabei das Kommando über eines von mehreren verschiedenen ‘Völkern’. Jedes dieser ‘Völker’ hat verschiedene spezifische Boni und wird durch einen historischen Anführer repräsentiert. Man kann im neuesten Teil Civilization VI zum Beispiel Ägypten mit Kleopatra oder das Deutsche Reich mit Bismarck auswählen. Egal, was man wählt, alle Spieler starten im Jahr 4000 v. Chr., also unabhängig davon, ob es der historischen Chronologie entspricht oder nicht. Einen detaillierteren Einblick in das Spielprinzip ermöglicht dieses Video des Herstellers.

Genau das ist entscheidend bei Civilization: Das Spiel nimmt sich viele verschiedene Informationen und Bausteine aus der Geschichtsschreibung und überlässt es dem Spieler, sie in neue, eigene Zusammenhänge zu bringen. Dabei gibt das Spiel nur wenige Regeln vor. Man kann also ohne Probleme im Jahr 1444 n. Chr. die Pyramiden von Gizeh in Berlin errichten lassen, oder als Katharina di Medici im Jahr 500 v. Chr. London einnehmen. Chronologisch gesehen ergibt das natürlich keinen Sinn, innerhalb der Grenzen der Spielregeln jedoch durchaus. Der Spieler schreibt seine ganz eigene, alternative Geschichte. Mit jedem neuen Spieldurchlauf gibt es sogar immer eine etwas andere.

Es geht um mehr als Chronologie - Wie Civilization die Welt erklärt

Bild 1: Die Pyramiden von Gizeh direkt am Brandenburger Tor? Natürlich stehen diese Pyramiden nicht in Berlin. Dennoch ist es aber nicht absurd, dass in einer Hauptstadt Prunkbauten früherer Herrscher zu finden sind.

Möchte man Geschichte rein chronologisch nacherzählen, wird man den Wert von Civilization nicht nachvollziehen können. Die Stärke der Darstellungen in diesem Spiel liegt darin, andere Zusammenhänge erkennbar zu machen. Die wichtigste Erkenntnis für den Spieler liegt nicht darin, dass die Pyramiden (nicht) in Berlin stünden, sondern, dass eine große, noch heute bekannte Zivilisation offenbar viele kulturelle und architektonische Leistungen hervorgebracht hat. Weltwunder bieten im Spiel meistens sehr attraktive Boni, sodass dem Spieler vermittelt wird, dass es für Herrscher offenbar häufig sehr wichtig war (und ist), große Prunkbauten erbauen zu lassen. Der Blick fällt also neben der chronologischen Ungereimtheit auch auf die gesellschaftliche und ideologische Funktion aufwändiger symbolischer Bauten überhaupt - Was ist die der Pyramiden, des Brandenburger Tors etc.?

Auch an vielen weiteren Stellen lassen sich interessante Zusammenhänge feststellen: So kommt es beispielsweise nicht selten vor, dass eine ‘Zivilisation’ im Spiel bereits Schießpulvereinheiten oder gar Panzer zu Verfügung hat, während eine andere noch mit Bogenschützen und Pikenieren kämpft. Was für den Spieler der einen ‘Zivilisation’ technologisch eher Standard ist, kann für einen anderen Spieler längst überholt sein.

Bild 2: Ein Trupp Bogenschützen greift das moderne London an. In Civilization ist das gut möglich und auch in der Weltgeschichte finden wir Parallelen dazu, etwa bei der Kolonisierung.

Ungleiche Kämpfe kennen wir aus der Weltgeschichte. Eines der berühmtesten Beispiele dürften die Spanier in Mesoamerika oder die Native Americans im Kampf gegen die europäischen Kolonisten sein.

An diesem Spielprinzip von Civilization und vielen weiteren Beispielen lässt sich ein westlich geprägtes Bild von Geschichte gut erklären. Auch lassen sich geschichtstheoretische Merkmale aufzeigen, zum Beispiel, dass Darstellungen von Geschichte immer gemacht sind. Auch Historikerinnen und Historiker müssen, ganz ähnlich wie die Spieler bei Civilization, verschiedene Bausteine und Informationen, die sie gefunden haben, nach bestimmten Regeln zu einer Geschichte verknüpfen. Historikerinnen und Historiker nutzen jedoch andere Regeln, als sie das Spiel vorgibt. Dennoch können historische Darstellungen teilweise deutlich voneinander unterscheiden, wie auch die Spielabläufe bei Civilization.

Civilization ist kein Spiel, das für den Schulunterricht entwickelt wurde. Das Spiel soll dem Entwickler und dem Publisher Geld in die Kassen spülen (und tut das auch mehr als erfolgreich). Damit dieses Spiel jedoch so erfolgreich sein kann, muss es (neben hervorragenden Spielmechaniken) auch ein Bild von Kultur und Geschichte projizieren, mit dem sich die Käufer zumindest grundlegend identifizieren können. Civilization erfüllt also nicht die Funktionen eines Schulbuchs, ist dafür aber ein sehr interessanter Spiegel für die Geschichtskultur der westlichen Gesellschaft. Deshalb kann es – und Gaming im Allgemeinen – für den Geschichtsunterricht wertvoll sein.

Macht Zocken schlau?

Diese Frage kann hier nicht allgemeingültig beantwortet werden. Es gibt zu diesem Thema zahlreiche verneinende und bejahende Studien. Wie bei jedem Umgang mit Medien sollte sich die Frage jedenfalls auch auf die geistige Reife der Spielerinnen und Spieler sowie auf Art und Dauer des Spielens richten. Dieser Beitrag möchte darauf hinweisen, dass es sinnvolle Wege gibt, Computerspiele in den Unterricht einzubeziehen. Gespielt werden sie von Schülerinnen und Schülern sowieso.

 

Anmerkung:

Beachten Sie bitte bei den verlinkten Trailern die FSK-Freigaben.